Gerakina, Teil 1

Gerakinas Türklinke symbolisiert das alte Kreta wie kaum etwas anderes (außer Gerakina selber). Das Hineingehen in ihr Kafenio ist harmlos, doch das Herausgehen tut weh. Jeder Fremde, der zum ersten Mal die Tür schließt, klemmt sich unweigerlich den Zeigefinger, eine Wunde, die richtig blutet. Deshalb macht es jeder nur genau einmal.

Der eiserne Rahmen der Tür ragt über den Schaft der Klinke, so dass er genau dort, wo man üblicherweise den rechten Zeigefinger beim Schließen der Tür hält, tief ins Fleisch einschneidet. Gottseidank verirren sich kaum noch Touristen in Gerakinas Kafenio, sonst wäre dauernd eine Lache geronnenen Blutes vor der Tür. Sicher, man könnte die scharfen Kanten abfeilen, aber warum? Alle wissen doch, dass man sich hier den Finger klemmt. Jeder weiß es, weil jeder mal geblutet und geflucht hat – vor 10 Jahren, vor 20 Jahren, vor 30 Jahren. Jeder genau einmal.

Die Tür ist alt, mindestens 30 Jahre, seitdem werden solche Türen nicht mehr gebaut. Gerakina ist auch alt, solche Frauen werden sogar auf Kreta rar. Ich habe sie noch nie weiter als 5 Meter außerhalb ihres Kafenios gesehen. Wenn der Wagen mit den Gasflaschen kommt, geht sie schon mal bis auf die Straße. Manchmal auch für den Gemüsemann. Der Bäcker hingegen bringt das Brot immer ins Kafenio – ohne sich die Finger zu klemmen. Woher der Rest der Waren kommt, weiß der Himmel, vielleicht sind sie auch so alt wie die Tür.

Mirthios Kreta

Unkundige würden sagen, Gerakina verziehe nie eine Miene. Ein versteinertes Gesicht, den gleichen Ausdruck, tagaus tagein. In Wirklichkeit ist auch bei ihr ungefähr ein Milimeter Mundwinkelhöhe Unterschied zwischen erfreut und bedrückt. Man muss halt nur etwas genauer hinschauen.

Gerakina hat noch genau dreihundert Haare auf dem Kopf, besser gesagt, hinten am Kopf. Lange Haare. Die legt sie ein paarmal um ihn rum, damit es nicht ganz so furchtbar ausschaut. Sie hat einen modernen Fernseher und einen Fernsehstuhl in dem sie wohnt. Wenn ich abends nach Hause fahre, schläft sie schon in diesem Stuhl, wenn ich morgens zur Arbeit fahre schläft sie noch in diesem Stuhl. Was zwischendrin passiert, weiß kein Mensch.

Neben dem Stuhl steht ein Hocker, auf dem steht eine Pappschachtel mit Wechselgeld, so ca. 300 Euro in Kleingeld, bunt gemischt. Diese Konstellation ermöglicht es ihr, Kunden zu bedienen, ohne vom Stuhl aufstehen zu müssen. Die Kunden holen die Ware, sagen ihr im Bedarfsfall den Preis, und Gerakina kann kassieren. Bei der Identifikation der Münzwerte des Wechselgeldes helfen auch gerne die Kunden. Eine Brille braucht Gerakina nicht.

Es heißt, sie sei einmal eine der hübschesten Frauen des Dorfes gewesen. Viele Männer in sie verliebt. Auch der Papas. Hat sie deswegen zur abendlichen Kartenspielzeit noch immer mehr Kunden als das benachbarte Kafenio von Irini? Oder ist es der Hauch des internationalen Flairs, welches sie umgab als noch das alte Hostel mit den vielen jungen Gästen gegenüber ihrem Kafenio geöffnet war? Als sie DIE Anlaufstelle für Bier, Kaffee, Rotwein und Klopapier war? Und Telefon, nicht zu vergessen. Ich weiß es nicht, mein Kaffee ist leer, ich werde gehen, bezahlen, mein Wechselgeld im Lichtschein des Fernsehers aus der Pappkiste wühlen, rausgehen und – vorsichtig – die Tür hinter mir schließen.

Februar 2010
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