Gerakina, Teil 2

Αls jemand, der Gerakina gelegentlich in handwerklichen Belangen hilft, genieße ich ein ganz besonderes Privileg: Ich darf ihr Schlafzimmer betreten. Der simple Grund dafür ist, dass die einzige mit 16 Ampere abgesicherte Steckdose sich in ihrem Schlafzimmer befindet, weil die Waschmaschine dort steht.

Ich nehme mir immer unangemessen viel Zeit zum Ausrollen der Kabeltrommel. Im Schlafzimmer hängen nämlich die Fotos. Gerakina und ihr vor langem verblichener Mann. Gerakina als junges Mädchen im Kreis ihrer Familie. Der Ehemann in Uniform neben Gerakina. Von allen Fotos blickt eine ungemein stolze, herb-hübsche Frau auf mich herab. Mit braunen oder dunkenblonden Haaren, nicht schwarz. Die wirkliche Haarfarbe ist auf den aufgeblitzten Schwarzweißfotos nur zu raten. Ein Gesicht wie ein Raubvogel, Nomen est Omen, Gerakina, die Falkin oder Falknerin.

Wenn ich mich in ihrem Schlafzimmer umblicke, fühle ich mich unweigerlich wie ein kleiner Junge, das geheimnisumwitterte Schlafzimmer meiner eigenen Oma kommt mir in den Sinn. Als Junge habe ich manche Osterferien dort auf der Besuchsritze übernachtet. Ich muss nur die orthodoxen Heiligenbilder gegen die katholischen austauschen, dann bin ich fast wieder dort. Auch ein porzellanener Waschzuber steht hie wie da.

Manche der Kunstwerke gab es allerdings bei meiner Oma nicht, über eines kann ich offen berichten, weil es nicht im Schlafzimmer, sondern für alle einsehbar im Kafenio selber hängt: Eine Stickerei mit dem Motiv eines nackten Mädchens auf einem Bett, welches sich in einem Handspiegel betrachtet. Goldene Fäden auf champagnerfarbenem Grund. Wie eine Falle schnappt die Zeitmaschine über mir zu, 32 Grad im Schatten, die Phantasie und ein Raki tun ihr übriges. Gerakina ist alt genug, dass sie meinen Großvater hätte treffen können. Aber der fiel in Russland, nicht auf Kreta.

Einmal sollte ich einen zerbrochenen Kleideraufhänger reparieren. Garderobe wäre zuviel gesagt. So’n Ding aus den 50er Jahren, ein Holzbrett mit aufgesetzten Haken. Zwei davon waren weggerostet. So etwas zu „reparieren“ ist an sich schon etwas besonderes. Ein zeitgenössisches Äquivalent aus Kunststoff würde vermutlich 2 Euro kosten. Egal, ich kann im Schlafzimmer agieren und Fotos und Einrichtung betrachten, das ist alle Mühe wert. Gerakina will nichts Neues mehr, und langsam bin ich selber alt genug um zu verstehen: das Alte wird wieder hergerichtet, und man muss sich nicht umgewöhnen. Um’s Geld geht es gar nicht. Den meisten anderen Leuten würde ich Reparaturen solcher Art verweigern: macht keinen Sinn, neu ist billiger. Aber bei Gerakina gibt es noch einen ganz besonderen Lohn neben einer Packung Zigaretten, einem Bier oder einem Kaffee: Ihr Lächeln. Denn dann sieht man mit zugekniffenen Augen ganz kurz das stolze, hübsche Mädchen auf den alten Fotos.

Gerakina ist nicht einzigartig. Es gibt unendlich viele weitere. Und auch die männlichen Pondons dazu. Menschen mit Geschichte. Eigentlich ist jeder Mensch so. Aber nur wenige lassen die Zeitmaschinenfalle so zuschnappen. Ich kann nicht anders, als drüber nachdenken zu müssen, wie ich alt werden mag.



Februar 2010
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